Friedrich Christian Avé-Lallemant: »Der Erb- und Gerichtsherr. Ein Polizeiroman«, 1870
von Mirko Schädel
Friedrich Christian Avé-Lallemant: Der Erb- und Gerichtsherr. Ein Polizeiroman, 1870, Hannover: Rümpler 1870,
3 Bde., 252, 311, 309 Seiten; aus der fürstlichen Bibliothek von der Leyen
Friedrich Christian Benedix Avé-Lallemant, auch F. C. B. Avé-Lallemant, 1809–1892, war maßgeblich an der Erneuerung der Lübecker Polizei in den 1850er Jahren beteiligt. Er begann in den 1860er Jahren mit dem Schreiben von Kriminalromanen, die er bezeichnenderweise Polizeiromane nannte, da diese den Alltag der Polizeibeamten mit allen Höhen und Tiefen recht gut beschrieben und dabei gerieten allerdings die zu behandelnden Kriminalfälle etwas in den Hintergrund.
Der Erb- und Gerichtsherr, 1870, ist ein wunderbar atmosphärischer Kriminalroman voller interessanter, kulturgeschichtlicher Eindrücke über das Leben der 1860er Jahre – mit viel Humor und Verstand dargebracht. Zu Beginn des Romans macht uns der Autor mit dem eislaufenden Polizeicommissar Kay Bendix Schnacksen bekannt, dessen hervorragendste Eigenschaften die Unvoreingenommenheit gegenüber Tatverdächtigen, der reichliche Konsum billiger Zigarren, der Sarkasmus und die Liebe zu Heinrich Heine sind. Der Ort des Geschehens ist eine nicht genannte Residenzstadt im Norden Deutschlands.
Schnacksen befindet sich geradezu in einem Duell kunstfertigen Eislaufens mit dem angesehenen Agenten und Kaufmann Iwan Stepanowitsch. Stepanowisch rempelt Schnacksen dabei an, merkt aber nicht, daß er bei diesem Manöver seinen Schlüsselbund verliert, der von einem Knaben gefunden und später Schnacksen ausgehändigt wird.
Nach dieser Szene wechselt der Autor in die nähere Umgebung der Stadt, wo sich ein altes Schloß und ein Gutshof in Nachbarschaft befinden. Dort lernen wir verschiedene eigenwlllige Charaktere kennen, den Juden Henoch und seinen Sohn Schummel, die im Gutshaus angestellt sind, den alten Jäger Dusch, der unweit des Gutshauses mit seiner Schwester wohnt, den »Schweberich«, ein Landjäger, der, wenn er sich beobachtet fühlt, einen storchenartigen Gang annimmt und mit gewählten, aber grammatisch katastrophalen Sätzen spricht, außerdem den Baron, ein Witwer, der mit seiner kleinen Tochter auf dem Schloß lebt und gerade eine neue Gouvernante für sein Töchterchen vom Bahnhof abgeholt hat.
An jenem Abend entdeckt Dusch, das ein Wilddieb in das Wildgehege des Gutshofs eingedrungen ist, und ein Hirschkalb getötet hat. Doch offenbar wurde dieser von Dusch überrascht und ist aus Rache für die Störung nach seiner Flucht zurückgekehrt an den Tatort um den Stall des Geheges anzuzünden.
Während uns der Autor umständlich, altertümelnd und langatmig mit allen Facetten der Polizeiarbeit vor Ort bekannt macht, überrascht es den Leser, daß der Roman dabei keineswegs langweilig wird. Commissar Schnacksen wiederum stellt Wachsabdrücke der Schlüssel her, die von Stepanowitsch herrühren, als folge er einem ungewissen Verdacht und seinem Instinkt. Überhaupt lernt der Leser bei der Lektüre einen neuen Begriff der Zeit kennen, der den Menschen im 21. Jahrhundert gänzlich abhanden gekommen ist.
Es entspinnt sich eine großangelegte Intrige, die auf den Besitz des Barons abzielt und die Handlung nimmt reichlich an Fahrt auf. Der Verlauf dieses Kriminalromans ist also durchaus spannend und wnn man sich auf die Langatmigkeit und den behäbigen Charakter einer solchen Erzählung einläßt, wird der Leser reichlich belohnt.
Eine falsche Fährte die zu einer Gruppe von Zigeunern führt, die naturgemäß mit einer Reihe von Ressentiments zu kämpfen haben, erweist sich dank der klaren Urteilskraft der Polizei als das, was sie ist: eine Irreführung von Seiten der Täter.